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REVISITING PRIŠTINA

Samira Kentrić

„In Kosovo gibt es keine Zoos, aber dafür gibt es ein Bärenschutzgebiet“, sagt Arif. Wir beide sind uns einig, dass das eine gute Sache ist. Ein junger Staat hat den Vorteil, dass er im Gegensatz zu älteren noch nicht die Zeit hatte, gewisse – angeblich selbstverständliche – Arten des Speziesismus eins zu eins zu übernehmen, und sie deshalb auch hinterfragen kann.

Die Straßenhunde hier sind alle mit Chips versehen, aber menschliche Streicheleien sind ihnen fremd.

Ich sitze im Stadtbus und fahre an einer Fleischerei vorbei. In der Auslage hängen enthäutete Rinderkörper. Ein ganz normaler Anblick, wenn vor derselben Auslage und dem Eingang der Fleischerei nicht süße Kuh- und Kalbskulpturen aufgestellt wären, und zwar in Originalgröße. Kinder klettern auf ihnen herum, während die Eltern einkaufen gehen.

Fahnen, überall hängen Fahnen. Nicht kosovarische, sondern albanische. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist hier nichts Außergewöhnliches, denn die albanische garantiert den Bürgerinnen und Bürgern größere Bewegungsfreiheit. Auch der Premierminister Albin Kurti hat die doppelte Staatsangehörigkeit. Bei einem Vortrag für die Studierenden der Akademie zeige ich eine verzerrte Version des auf der Fahne abgebildeten zweiköpfigen Adlers. In dieser Version bohrt sich der Schnabel des ersten in den Hals des zweiten Adlers. Dieses Bild hatte ich vor Jahren gezeichnet, als Kommentar zum Thema Blutrache unter Landsleuten. Nach dem Ende des Vortrags fragen mich die Studierenden, was das Bild bedeuten soll.

Ganz verwirrt verlasse ich die Akademie. Die Studentinnen haben keine einzige Frage gestellt, obwohl die meisten meiner Bilder mit Feminismus zu tun haben.

Qendra Multimedia, die Kultureinrichtung, die mir hier die Wohnung zur Verfügung stellt, organisiert ein internationales Theaterfestival. Ich sehe mir mehrere kosovarische Stücke mit Übertiteln an. Ich genieße die Aufführungen deutlich mehr als die Theaterbesuche in Ljubljana; hier herrscht mehr Authentizität, gibt es mehr Humor. Der Leiter der Organisation ist selbst Regisseur, der für seine Stückinszenierungen oft mit Kolleginnen und Kollegen aus Belgrad zusammenarbeitet. Anscheinend unterstützen internationale Fördergelder die regionale Zusammenarbeit. So werden auf kultureller Ebene politisch zerstritten Gebiete zusammengebracht. Die Klügsten arbeiten zusammen.

Doch diese Art der Kooperationen ist leider eine vereinzelte Sternschnuppe in der Nachtfinsternis.

Ich komme an einem Samstag in Pristina an und halte es bis zum Montag kaum aus: Ich möchte sofort damit beginnen, die Buchhandlungen der Stadt abzuklappern. Von Kosovo wusste ich bisher nicht viel. Aber dafür gibt es ja Bücher. Ich kaufe ein dickes Buch über die Geschichte und Entwicklung der Region, aber das reicht mir nicht. Um etwas zu verstehen, brauche ich Lyrik. Ich kaufe zwei Gedichtbände – von Agim Vinca und Lena Ibishi. Den ersten in bosnischer, den zweiten in englischer Sprache. Durch das Lesen fühle ich mich Kosovo immer näher, wird es immer mehr zu meinem Land. Früher bedeutete das vor allem die Solidarität mit der Arbeiter:innenklasse, wie vor Jahrzehnten – lang ist es her – im gemeinsamen Staat Jugoslawien.

Jetzt klatschen mir die schonungslosen, wagemutigen Worte der siebzehnjährigen Lena Ibishi mit frischer, kritischer Energie ins Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich verwundert bin oder sie bewundere. Das ist gut.

An den beiden Enden der Straße, auf der ich üblicherweise meinen Frühstückskaffee einnehme, stehen Statuen desselben Mannes. Ibrahim Rugova. Pazifist, Schriftsteller, Präsident. Unabhängigkeitskämpfer. Ich erinnere mich an sein Gesicht auf dem schwarzweißen Bildschirm unseres Fernsehers. Erinnere mich an den Schal, der sich um seinen Hals schlang und ihm den Charme eines französischen Intellektuellen verlieh. Schon damals war ich davon überzeugt gewesen, dass der Schal nur rot sein konnte, obwohl über den Fernsehbildschirm nur monochrome Bilder flimmerten.

Zur Straße komme ich über den Hügel, der an der überdimensionalen Gruft von Rugova vorbeiführt. Doch stärker als die Präsenz des Pazifisten Rugova ist die der Kriegshelden in Unabhängigkeitsuniform, die von den bemalten Hausfassaden aus über die Stadt wachen.

In Pristina wird der öffentliche Raum oftmals von Privateigentum okkupiert. Bei den Grünflächen ist das vor allem die Art Eigentum, das Besitzer und Besitzerinnen aufgrund dessen verblasster Nützlichkeit loswerden wollen. Mit anderen Worten: Sie deponieren dort ihren Müll, Verpackungen ohne Inhalt. Müll, überall Müll, auch in den neuen Nachbarschaften höheren Ranges, zu der auch meine zählt.

Die zweite Art des Privateigentums besetzt die Asphaltflächen. Leere Autos stehen sicher geparkt auf den Gehwegen der Stadt, und wir, wir gehen um sie herum auf den befahrenen Straßen.

In der Nationalgalerie läuft eine Ausstellung von Alban Muja über den Krieg im Jahr 1999 mit dem Titel Whatever Happens, We Will Be Prepared. Ein Großteil der visuell dargestellten Überlegungen ist der Identität gewidmet. Am meisten beeindruckt mich die Geschichte einer Brasilianerin jüdischer Abstammung mit muslimischem Namen. Sie beschreibt ihre Situation wie folgt: „Meine Eltern waren antizionistische Juden, Hippies mit großen Hoffnungen“. Cheers to them, denke ich mir.

Auch diese Galerie ist für mich, wie so oft, ein Zufluchtsort, ein Ort der Meditation, der keine Antworten bietet, uns aber auf das Wesentliche aufmerksam macht.  

Ein Monat ist zu lang, um nur ruhig herumzusitzen. Dank meiner Zeit in Tirana verfüge ich über ausreichend Erfahrung mit den Fahrgelegenheiten und Kombis, die vielerorts das verbesserungswürdige öffentliche Verkehrsnetz ersetzen. Mit einem der Kombis fahre ich nach Mitrovica. Das Überschreiten der Brücke führt mich an das Ufer, an dem die Serben leben, was unübersehbar ist. Noch nie zuvor im Leben habe ich so deutlich gefühlt, dass ich die Grenze in eine andere Welt überschreite. Und nein, das ist nicht gut. Wir bauen Brücken ja nicht, um auf unserer Uferseite zu bleiben.

Der Besuch von Prizren tröstet mich ein wenig. Dort hallen auf der Terrasse des Cafés unterschiedliche Sprachen wider und alle Augenbrauen bleiben gesenkt.

Mmm, Somun. Dieses Wort ist mir bekannt. Es duftet. Es duftet nach dem Brot, das ich als Kind in Bosnien gegessen habe. Im Restaurant, das versucht, ein Ambiente von Tradition und Opulenz heraufzubeschwören, wird das beste Brot der Welt gebacken. Ich tauche das Brot in die gebackene Sahne mit Paprika. Beiße ins Brot und brumme zufrieden. Das rundliche Bäuchlein des Brots erinnert mich an die Vordächer der Nationalbibliothek von Kosovo am anderen Ende der Stadt. Architektonisch gesehen, ist es das bei weitem unterhaltsamste Gebäude von Pristina.

Brot und eine Bibliothek. Eine Stadt, die beides hat, kann die glücklichste Stadt der Welt sein.

21.10.21
Auf Albanisch kann ich ihn nicht lesen,
aber auf Bosnisch verstehe ich ihn,
als würde er auf Slowenisch schreiben.
Agim Vinca.

24.10.21
der Schaffner auf der Linie Prizren-Pristina
sieht aus wie Rambo und
ist gerade dabei, an alle Reisenden
Schokobananen auszuteilen.
#kosovomeinland

Niemand trägt Sonnenbrille.

Die englischsprachigen Leute gebrauchen am öftesten die Begriffe human rights und people from independent media.

Niemand trinkt im Gehen, um hydriert zu bleiben.

1.11.21
nach nur einem einzigen Tag dort
muss man nicht gescheit tun.
aber die Uhr neben dieser Brücke, die uns trennt, ist stehengeblieben.
es gibt die Zeit des Kriegs und die Zeit des Friedens.
und die Zeit in Kosovska Mitrovica.

31.10.2021
Lena Ibishi lebt in Kosovo
und ist 17 Jahre alt. Dies ist eines
ihrer Gedichte, das sie dem Balkan gewidmet hat.

In den Cafés bedienen Männer.

Aus dem Slowenischen von Barbara Anderlič

Samira Kentrić (1976) ist eine Künstlerin, die die soziale Realität um sich in Bilder verwandelt. Ihre Vorliebe ist es, surreale Situationen zu kreieren, um so die realste Realität hervorzuheben. Sie arbeitet in unterschiedlichen Techniken und wählt die, die am angemessensten ist. Ihr Augenmerk liegt auf der Schnittstelle zwischen öffentlicher und politischer Meinungsäußerung und dem intimen, privaten Alltagsleben der Menschen. Bis dato hat sie drei Graphic Novels veröffentlicht: Balkanalije (Autobiografie, 2015), Pismo Adni (über die Flüchtlingskrise, 2016) und Adna (2020).

Projektleitung: Barbara Anderlič
Design: Beri (Konzept Samira Kentrić)

REVISITING PRIŠTINA

Samira Kentrić

„In Kosovo gibt es keine Zoos, aber dafür gibt es ein Bärenschutzgebiet“, sagt Arif. Wir beide sind uns einig, dass das eine gute Sache ist. Ein junger Staat hat den Vorteil, dass er im Gegensatz zu älteren noch nicht die Zeit hatte, gewisse – angeblich selbstverständliche – Arten des Speziesismus eins zu eins zu übernehmen, und sie deshalb auch hinterfragen kann.

Die Straßenhunde hier sind alle mit Chips versehen, aber menschliche Streicheleien sind ihnen fremd.

Ich sitze im Stadtbus und fahre an einer Fleischerei vorbei. In der Auslage hängen enthäutete Rinderkörper. Ein ganz normaler Anblick, wenn vor derselben Auslage und dem Eingang der Fleischerei nicht süße Kuh- und Kalbskulpturen aufgestellt wären, und zwar in Originalgröße. Kinder klettern auf ihnen herum, während die Eltern einkaufen gehen.

Fahnen, überall hängen Fahnen. Nicht kosovarische, sondern albanische. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist hier nichts Außergewöhnliches, denn die albanische garantiert den Bürgerinnen und Bürgern größere Bewegungsfreiheit. Auch der Premierminister Albin Kurti hat die doppelte Staatsangehörigkeit. Bei einem Vortrag für die Studierenden der Akademie zeige ich eine verzerrte Version des auf der Fahne abgebildeten zweiköpfigen Adlers. In dieser Version bohrt sich der Schnabel des ersten in den Hals des zweiten Adlers. Dieses Bild hatte ich vor Jahren gezeichnet, als Kommentar zum Thema Blutrache unter Landsleuten. Nach dem Ende des Vortrags fragen mich die Studierenden, was das Bild bedeuten soll.

Ganz verwirrt verlasse ich die Akademie. Die Studentinnen haben keine einzige Frage gestellt, obwohl die meisten meiner Bilder mit Feminismus zu tun haben.

21.10.21
Auf Albanisch kann ich ihn nicht lesen,
aber auf Bosnisch verstehe ich ihn,
als würde er auf Slowenisch schreiben.
Agim Vinca.

24.10.21
der Schaffner auf der Linie Prizren-Pristina
sieht aus wie Rambo und
ist gerade dabei, an alle Reisenden
Schokobananen auszuteilen.
#kosovomeinland

Qendra Multimedia, die Kultureinrichtung, die mir hier die Wohnung zur Verfügung stellt, organisiert ein internationales Theaterfestival. Ich sehe mir mehrere kosovarische Stücke mit Übertiteln an. Ich genieße die Aufführungen deutlich mehr als die Theaterbesuche in Ljubljana; hier herrscht mehr Authentizität, gibt es mehr Humor. Der Leiter der Organisation ist selbst Regisseur, der für seine Stückinszenierungen oft mit Kolleginnen und Kollegen aus Belgrad zusammenarbeitet. Anscheinend unterstützen internationale Fördergelder die regionale Zusammenarbeit. So werden auf kultureller Ebene politisch zerstritten Gebiete zusammengebracht. Die Klügsten arbeiten zusammen.

Doch diese Art der Kooperationen ist leider eine vereinzelte Sternschnuppe in der Nachtfinsternis.

Niemand trägt Sonnenbrille.

Die englischsprachigen Leute

gebrauchen am öftesten

die Begriffe human rights und

people from independent media.


 

Ich komme an einem Samstag in Pristina an und halte es bis zum Montag kaum aus: Ich möchte sofort damit beginnen, die Buchhandlungen der Stadt abzuklappern. Von Kosovo wusste ich bisher nicht viel. Aber dafür gibt es ja Bücher. Ich kaufe ein dickes Buch über die Geschichte und Entwicklung der Region, aber das reicht mir nicht. Um etwas zu verstehen, brauche ich Lyrik. Ich kaufe zwei Gedichtbände – von Agim Vinca und Lena Ibishi. Den ersten in bosnischer, den zweiten in englischer Sprache. Durch das Lesen fühle ich mich Kosovo immer näher, wird es immer mehr zu meinem Land. Früher bedeutete das vor allem die Solidarität mit der Arbeiter:innenklasse, wie vor Jahrzehnten – lang ist es her – im gemeinsamen Staat Jugoslawien.

Jetzt klatschen mir die schonungslosen, wagemutigen Worte der siebzehnjährigen Lena Ibishi mit frischer, kritischer Energie ins Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich verwundert bin oder sie bewundere. Das ist gut.

Niemand trinkt im Gehen, um hydriert zu bleiben.

An den beiden Enden der Straße, auf der ich üblicherweise meinen Frühstückskaffee einnehme, stehen Statuen desselben Mannes. Ibrahim Rugova. Pazifist, Schriftsteller, Präsident. Unabhängigkeitskämpfer. Ich erinnere mich an sein Gesicht auf dem schwarzweißen Bildschirm unseres Fernsehers. Erinnere mich an den Schal, der sich um seinen Hals schlang und ihm den Charme eines französischen Intellektuellen verlieh. Schon damals war ich davon überzeugt gewesen, dass der Schal nur rot sein konnte, obwohl über den Fernsehbildschirm nur monochrome Bilder flimmerten.

Zur Straße komme ich über den Hügel, der an der überdimensionalen Gruft von Rugova vorbeiführt. Doch stärker als die Präsenz des Pazifisten Rugova ist die der Kriegshelden in Unabhängigkeitsuniform, die von den bemalten Hausfassaden aus über die Stadt wachen.

In Pristina wird der öffentliche Raum oftmals von Privateigentum okkupiert. Bei den Grünflächen ist das vor allem die Art Eigentum, das Besitzer und Besitzerinnen aufgrund dessen verblasster Nützlichkeit loswerden wollen. Mit anderen Worten: Sie deponieren dort ihren Müll, Verpackungen ohne Inhalt. Müll, überall Müll, auch in den neuen Nachbarschaften höheren Ranges, zu der auch meine zählt.

Die zweite Art des Privateigentums besetzt die Asphaltflächen. Leere Autos stehen sicher geparkt auf den Gehwegen der Stadt, und wir, wir gehen um sie herum auf den befahrenen Straßen.


1.11.21

nach nur einem einzigen Tag dort
muss man nicht gescheit tun.
aber die Uhr neben dieser Brücke,
die uns trennt, ist stehengeblieben.
es gibt die Zeit des Kriegs
und die Zeit des Friedens.
und die Zeit in Kosovska Mitrovica.

In der Nationalgalerie läuft eine Ausstellung von Alban Muja über den Krieg im Jahr 1999 mit dem Titel Whatever Happens, We Will Be Prepared. Ein Großteil der visuell dargestellten Überlegungen ist der Identität gewidmet. Am meisten beeindruckt mich die Geschichte einer Brasilianerin jüdischer Abstammung mit muslimischem Namen. Sie beschreibt ihre Situation wie folgt: „Meine Eltern waren antizionistische Juden, Hippies mit großen Hoffnungen“. Cheers to them, denke ich mir.

Auch diese Galerie ist für mich, wie so oft, ein Zufluchtsort, ein Ort der Meditation, der keine Antworten bietet, uns aber auf das Wesentliche aufmerksam macht.  

Ein Monat ist zu lang, um nur ruhig herumzusitzen. Dank meiner Zeit in Tirana verfüge ich über ausreichend Erfahrung mit den Fahrgelegenheiten und Kombis, die vielerorts das verbesserungswürdige öffentliche Verkehrsnetz ersetzen. Mit einem der Kombis fahre ich nach Mitrovica. Das Überschreiten der Brücke führt mich an das Ufer, an dem die Serben leben, was unübersehbar ist. Noch nie zuvor im Leben habe ich so deutlich gefühlt, dass ich die Grenze in eine andere Welt überschreite. Und nein, das ist nicht gut. Wir bauen Brücken ja nicht, um auf unserer Uferseite zu bleiben.

Der Besuch von Prizren tröstet mich ein wenig. Dort hallen auf der Terrasse des Cafés unterschiedliche Sprachen wider und alle Augenbrauen bleiben gesenkt.

31.10.2021
Lena Ibishi lebt in Kosovo und ist
17 Jahre alt. Dies ist eines ihrer Gedichte,
das sie dem Balkan gewidmet hat.

Mmm, Somun. Dieses Wort ist mir bekannt. Es duftet. Es duftet nach dem Brot, das ich als Kind in Bosnien gegessen habe. Im Restaurant, das versucht, ein Ambiente von Tradition und Opulenz heraufzubeschwören, wird das beste Brot der Welt gebacken. Ich tauche das Brot in die gebackene Sahne mit Paprika. Beiße ins Brot und brumme zufrieden. Das rundliche Bäuchlein des Brots erinnert mich an die Vordächer der Nationalbibliothek von Kosovo am anderen Ende der Stadt. Architektonisch gesehen, ist es das bei weitem unterhaltsamste Gebäude von Pristina.

Brot und eine Bibliothek. Eine Stadt, die beides hat, kann die glücklichste Stadt der Welt sein.

In den Cafés bedienen Männer.

Aus dem Slowenischen von Barbara Anderlič

Samira Kentrić (1976) ist eine Künstlerin, die die soziale Realität um sich in Bilder verwandelt. Ihre Vorliebe ist es, surreale Situationen zu kreieren, um so die realste Realität hervorzuheben. Sie arbeitet in unterschiedlichen Techniken und wählt die, die am angemessensten ist. Ihr Augenmerk liegt auf der Schnittstelle zwischen öffentlicher und politischer Meinungsäußerung und dem intimen, privaten Alltagsleben der Menschen. Bis dato hat sie drei Graphic Novels veröffentlicht: Balkanalije (Autobiografie, 2015), Pismo Adni (über die Flüchtlingskrise, 2016) und Adna (2020).

Projektleitung: Barbara Anderlič
Design: Beri (Konzept Samira Kentrić)

REVISITING PRIŠTINA

Samira Kentrić

„In Kosovo gibt es keine Zoos, aber dafür gibt es ein Bärenschutzgebiet“, sagt Arif. Wir beide sind uns einig, dass das eine gute Sache ist. Ein junger Staat hat den Vorteil, dass er im Gegensatz zu älteren noch nicht die Zeit hatte, gewisse – angeblich selbstverständliche – Arten des Speziesismus eins zu eins zu übernehmen, und sie deshalb auch hinterfragen kann.

Die Straßenhunde hier sind alle mit Chips versehen, aber menschliche Streicheleien sind ihnen fremd.

Ich sitze im Stadtbus und fahre an einer Fleischerei vorbei. In der Auslage hängen enthäutete Rinderkörper. Ein ganz normaler Anblick, wenn vor derselben Auslage und dem Eingang der Fleischerei nicht süße Kuh- und Kalbskulpturen aufgestellt wären, und zwar in Originalgröße. Kinder klettern auf ihnen herum, während die Eltern einkaufen gehen.

Fahnen, überall hängen Fahnen. Nicht kosovarische, sondern albanische. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist hier nichts Außergewöhnliches, denn die albanische garantiert den Bürgerinnen und Bürgern größere Bewegungsfreiheit. Auch der Premierminister Albin Kurti hat die doppelte Staatsangehörigkeit. Bei einem Vortrag für die Studierenden der Akademie zeige ich eine verzerrte Version des auf der Fahne abgebildeten zweiköpfigen Adlers. In dieser Version bohrt sich der Schnabel des ersten in den Hals des zweiten Adlers. Dieses Bild hatte ich vor Jahren gezeichnet, als Kommentar zum Thema Blutrache unter Landsleuten. Nach dem Ende des Vortrags fragen mich die Studierenden, was das Bild bedeuten soll.

Ganz verwirrt verlasse ich die Akademie. Die Studentinnen haben keine einzige Frage gestellt, obwohl die meisten meiner Bilder mit Feminismus zu tun haben.

21.10.21
Auf Albanisch kann ich ihn nicht lesen,
aber auf Bosnisch verstehe ich ihn,
als würde er auf Slowenisch schreiben.
Agim Vinca.

24.10.21
der Schaffner auf der Linie Prizren-Pristina
sieht aus wie Rambo und
ist gerade dabei, an alle Reisenden
Schokobananen auszuteilen.
#kosovomeinland

Qendra Multimedia, die Kultureinrichtung, die mir hier die Wohnung zur Verfügung stellt, organisiert ein internationales Theaterfestival. Ich sehe mir mehrere kosovarische Stücke mit Übertiteln an. Ich genieße die Aufführungen deutlich mehr als die Theaterbesuche in Ljubljana; hier herrscht mehr Authentizität, gibt es mehr Humor. Der Leiter der Organisation ist selbst Regisseur, der für seine Stückinszenierungen oft mit Kolleginnen und Kollegen aus Belgrad zusammenarbeitet. Anscheinend unterstützen internationale Fördergelder die regionale Zusammenarbeit. So werden auf kultureller Ebene politisch zerstritten Gebiete zusammengebracht. Die Klügsten arbeiten zusammen.

Doch diese Art der Kooperationen ist leider eine vereinzelte Sternschnuppe in der Nachtfinsternis.

Niemand trägt Sonnenbrille.

Die englischsprachigen Leute gebrauchen am öftesten die Begriffe human rights und people from independent media.

 

Ich komme an einem Samstag in Pristina an und halte es bis zum Montag kaum aus: Ich möchte sofort damit beginnen, die Buchhandlungen der Stadt abzuklappern. Von Kosovo wusste ich bisher nicht viel. Aber dafür gibt es ja Bücher. Ich kaufe ein dickes Buch über die Geschichte und Entwicklung der Region, aber das reicht mir nicht. Um etwas zu verstehen, brauche ich Lyrik. Ich kaufe zwei Gedichtbände – von Agim Vinca und Lena Ibishi. Den ersten in bosnischer, den zweiten in englischer Sprache. Durch das Lesen fühle ich mich Kosovo immer näher, wird es immer mehr zu meinem Land. Früher bedeutete das vor allem die Solidarität mit der Arbeiter:innenklasse, wie vor Jahrzehnten – lang ist es her – im gemeinsamen Staat Jugoslawien.

Jetzt klatschen mir die schonungslosen, wagemutigen Worte der siebzehnjährigen Lena Ibishi mit frischer, kritischer Energie ins Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich verwundert bin oder sie bewundere. Das ist gut.

Niemand trinkt im Gehen, um hydriert zu bleiben.

An den beiden Enden der Straße, auf der ich üblicherweise meinen Frühstückskaffee einnehme, stehen Statuen desselben Mannes. Ibrahim Rugova. Pazifist, Schriftsteller, Präsident. Unabhängigkeitskämpfer. Ich erinnere mich an sein Gesicht auf dem schwarzweißen Bildschirm unseres Fernsehers. Erinnere mich an den Schal, der sich um seinen Hals schlang und ihm den Charme eines französischen Intellektuellen verlieh. Schon damals war ich davon überzeugt gewesen, dass der Schal nur rot sein konnte, obwohl über den Fernsehbildschirm nur monochrome Bilder flimmerten.

Zur Straße komme ich über den Hügel, der an der überdimensionalen Gruft von Rugova vorbeiführt. Doch stärker als die Präsenz des Pazifisten Rugova ist die der Kriegshelden in Unabhängigkeitsuniform, die von den bemalten Hausfassaden aus über die Stadt wachen.

In Pristina wird der öffentliche Raum oftmals von Privateigentum okkupiert. Bei den Grünflächen ist das vor allem die Art Eigentum, das Besitzer und Besitzerinnen aufgrund dessen verblasster Nützlichkeit loswerden wollen. Mit anderen Worten: Sie deponieren dort ihren Müll, Verpackungen ohne Inhalt. Müll, überall Müll, auch in den neuen Nachbarschaften höheren Ranges, zu der auch meine zählt.

Die zweite Art des Privateigentums besetzt die Asphaltflächen. Leere Autos stehen sicher geparkt auf den Gehwegen der Stadt, und wir, wir gehen um sie herum auf den befahrenen Straßen.

1.11.21
nach nur einem einzigen Tag dort
muss man nicht gescheit tun.
aber die Uhr neben dieser Brücke,
die uns trennt, ist stehengeblieben.
es gibt die Zeit des Kriegs und die Zeit des Friedens.
und die Zeit in Kosovska Mitrovica.

In der Nationalgalerie läuft eine Ausstellung von Alban Muja über den Krieg im Jahr 1999 mit dem Titel Whatever Happens, We Will Be Prepared. Ein Großteil der visuell dargestellten Überlegungen ist der Identität gewidmet. Am meisten beeindruckt mich die Geschichte einer Brasilianerin jüdischer Abstammung mit muslimischem Namen. Sie beschreibt ihre Situation wie folgt: „Meine Eltern waren antizionistische Juden, Hippies mit großen Hoffnungen“. Cheers to them, denke ich mir.

Auch diese Galerie ist für mich, wie so oft, ein Zufluchtsort, ein Ort der Meditation, der keine Antworten bietet, uns aber auf das Wesentliche aufmerksam macht.  

Ein Monat ist zu lang, um nur ruhig herumzusitzen. Dank meiner Zeit in Tirana verfüge ich über ausreichend Erfahrung mit den Fahrgelegenheiten und Kombis, die vielerorts das verbesserungswürdige öffentliche Verkehrsnetz ersetzen. Mit einem der Kombis fahre ich nach Mitrovica. Das Überschreiten der Brücke führt mich an das Ufer, an dem die Serben leben, was unübersehbar ist. Noch nie zuvor im Leben habe ich so deutlich gefühlt, dass ich die Grenze in eine andere Welt überschreite. Und nein, das ist nicht gut. Wir bauen Brücken ja nicht, um auf unserer Uferseite zu bleiben.

Der Besuch von Prizren tröstet mich ein wenig. Dort hallen auf der Terrasse des Cafés unterschiedliche Sprachen wider und alle Augenbrauen bleiben gesenkt.

31.10.2021
Lena Ibishi lebt in Kosovo und ist 17
Jahre alt. Dies ist eines ihrer Gedichte,
das sie dem Balkan gewidmet hat.

Mmm, Somun. Dieses Wort ist mir bekannt. Es duftet. Es duftet nach dem Brot, das ich als Kind in Bosnien gegessen habe. Im Restaurant, das versucht, ein Ambiente von Tradition und Opulenz heraufzubeschwören, wird das beste Brot der Welt gebacken. Ich tauche das Brot in die gebackene Sahne mit Paprika. Beiße ins Brot und brumme zufrieden. Das rundliche Bäuchlein des Brots erinnert mich an die Vordächer der Nationalbibliothek von Kosovo am anderen Ende der Stadt. Architektonisch gesehen, ist es das bei weitem unterhaltsamste Gebäude von Pristina.

Brot und eine Bibliothek. Eine Stadt, die beides hat, kann die glücklichste Stadt der Welt sein.

In den Cafés bedienen Männer.

Aus dem Slowenischen von Barbara Anderlič

Samira Kentrić (1976) ist eine Künstlerin, die die soziale Realität um sich in Bilder verwandelt. Ihre Vorliebe ist es, surreale Situationen zu kreieren, um so die realste Realität hervorzuheben. Sie arbeitet in unterschiedlichen Techniken und wählt die, die am angemessensten ist. Ihr Augenmerk liegt auf der Schnittstelle zwischen öffentlicher und politischer Meinungsäußerung und dem intimen, privaten Alltagsleben der Menschen. Bis dato hat sie drei Graphic Novels veröffentlicht: Balkanalije (Autobiografie, 2015), Pismo Adni (über die Flüchtlingskrise, 2016) und Adna (2020

Projektleitung: Barbara Anderlič
Design: Beri (Konzept Samira Kentrić)